Ist es möglich, sich gegen eine überhöhte Geldstrafe für Pflichtverletzungen bei der grenzüberschreitenden Entsendung von Arbeitnehmern zu wehren?

Slowakei
Available languages: EN, SK

Haben Sie bei der grenzüberschreitenden Entsendung Ihrer Mitarbeiter versehentlich gegen administrative Pflichten verstoßen und wurden Sie dafür unverhältnismäßig sanktioniert? Lesen Sie in diesem Artikel, was der Gerichtshof der Europäischen Union („EuGH“) zu diesem Thema sagt.

In Artikel 20 der Richtlinie 2014/67/EU[1] („Artikel 20“) heißt es: " Die Mitgliedstaaten legen Vorschriften über die Sanktionen fest, die bei Verstößen gegen die gemäß dieser Richtlinie erlassenen nationalen Bestimmungen anzuwenden sind, und ergreifen alle erforderlichen Maßnahmen, um die Durchführung und Einhaltung dieser Vorschriften zu gewährleisten. Die vorgesehenen Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein. (...)"

Innerhalb der Grenzen von Artikel 20 sind die einzelnen Mitgliedstaaten berechtigt, in ihren nationalen Rechtsvorschriften Sanktionen für mögliche Verstöße gegen die Verpflichtungen bei der grenzüberschreitenden Entsendung von Arbeitnehmern vorzusehen. Was aber, wenn diese nationalen Rechtsvorschriften die Verhängung einer unverhältnismäßig hohen Sanktion zulassen? Kann die Höhe der Geldstrafe unmittelbar von dem Unternehmen, gegen das die Geldstrafe verhängt wurde, wirksam angefochten werden?

Mit dem Problem unverhältnismäßig hoher Strafen für Pflichtverletzungen bei der grenzüberschreitenden Entsendung von Arbeitnehmern hat sich der EuGH in einem Verfahren befasst, der zu einem Urteil vom 8. März 2022 in der Rechtssache C-205/20[2] geführt hat. In diesem Urteil äußert sich der EuGH zur unmittelbaren Anwendbarkeit des Erfordernisses der Verhältnismäßigkeit von Sanktionen gemäß Artikel 20. Darüber hinaus hat sich der EuGH auch dazu geäußert, inwieweit nationale Rechtsvorschriften, die gegen Artikel 20 verstoßen, anzuwenden sind.

Der Sachverhalt

Ein slowakisches Unternehmen entsendet seine Mitarbeiter zu einem österreichischen Unternehmen. Aufgrund der Nichteinhaltung einer Reihe von Verpflichtungen des österreichischen Arbeitsrechts, insbesondere in Bezug auf die Aufbewahrung und Meldung von Lohnunterlagen und Sozialversicherungsdokumenten, verhängte eine österreichische Behörde gegen den Unternehmer eine Geldstrafe in Höhe von EUR 54.000, die nach österreichischem Recht festgesetzt wurde. Das Unternehmen, gegen das die Geldbuße verhängt wurde, war mit der Höhe der Geldbuße nicht einverstanden und erhob daher eine Klage vor dem nationalen österreichischen Gericht. Dieser legte die Angelegenheit dem EuGH zur Vorabentscheidung vor.

Entscheidung des EuGHs

Der EuGH hat entschieden, dass das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit von Sanktionen gemäß Artikel 20 unmittelbare Wirkung hat, so dass sich Einzelpersonen (Unternehmen, die von einer unverhältnismäßig hohen Sanktion betroffen sind) unmittelbar auf diese Bestimmung vor der nationalen Behörde eines Mitgliedstaats berufen können, der Artikel 20 nicht ordnungsgemäß in nationales Recht umgesetzt hat.

Der EuGH hat ferner entschieden, dass es zur Gewährleistung der uneingeschränkten Anwendung des in Artikel 20 niedergelegten Erfordernisses der Verhältnismäßigkeit der Sanktionen ausreicht, nationale Vorschriften nur insoweit unangewendet zu lassen, als sie die Verhängung verhältnismäßiger Sanktionen verhindern, um sicherzustellen, dass die gegen die betreffende Person verhängten Sanktionen dem Erfordernis der Verhältnismäßigkeit entsprechen. Das zuständige nationale Gericht, das über einen Rechtsstreit über die Höhe der wegen eines Verstoßes gegen eine Verpflichtung zur grenzüberschreitenden Entsendung von Arbeitnehmern verhängten Geldbuße entscheidet, ist daher verpflichtet, die Schwere der Sanktionen, die zwar im Einklang mit dem nationalen Recht stehen, aber unter Verstoß gegen Artikel 20 verhängt wurden, gegebenenfalls zu mildern. Konkret hat der EuGH festgestellt: "Der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts ist dahin auszulegen, dass er die nationalen Behörden verpflichtet, nationale Rechtsvorschriften, die teilweise gegen das in Artikel 20 der Richtlinie 2014/67 festgelegte Erfordernis der Verhältnismäßigkeit der Sanktionen verstoßen, nur insoweit anzuwenden, als dies für die Verhängung verhältnismäßiger Sanktionen erforderlich ist."

Unternehmer, die wegen Verstößen gegen ihre Verpflichtungen bei der grenzüberschreitenden Entsendung von Arbeitnehmern mit unverhältnismäßig hohen Geldstrafen belegt wurden, können sich daher unmittelbar auf die europäischen Rechtsvorschriften berufen, die die Verhängung von Sanktionen in verhältnismäßiger Höhe vorsehen, und die zuständigen nationalen Behörden sind gemäß dem Grundsatz des Vorrangs des europäischen Rechts verpflichtet, unverhältnismäßig hohe Sanktionen abzumildern, um sicherzustellen, dass sie im Einklang mit den europäischen Vorschriften verhängt werden.


[1] Richtlinie 2014/67/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 zur Durchsetzung der Richtlinie 96/71/EG über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen und zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1024/2012 über die Verwaltungszusammenarbeit mit Hilfe des innenmarkt-Informationssystems („IMI-Verordnung“)

[2] Rechtsstreit NE gegen Bezirkshauptmannschaft Hartberg‑Fürstenfeld, unter Beteiligung des Finanzpolizei Team 91.