Patentrecht Schweiz: Keine Äquivalenz bei Patentansprüchen mit Zahlen oder Massangaben?

Schweiz
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Wann sind Patentansprüche mit Zahlen oder Massangaben verletzt? Müssen Mitbewerber damit rechnen, für eine Patentverletzung verantwortlich gemacht zu werden, wenn ihr Produkt Eigenschaften aufweist, die ausserhalb der im Patentanspruch genannten Bandbreite liegen? Für ein Arzneimittel mit dem Wirkstoff Deferasirox befasste sich das Schweizer Bundespatentgericht mit diesen Fragen. In zwei Urteilen kam es zu gegenteiligen Schlussfolgerungen. In einem Entscheid über den Erlass von vorsorglichen Massnahmen bejahte es eine wortsinngemässe Patentverletzung für eine Tablette mit einem Wirkstoffanteil, der ausserhalb der beanspruchten Bandbreite lag. Im Hauptverfahren ist das Gericht nun aber zum gegenteiligen Ergebnis gekommen.

Hintergrund

Die Auseinandersetzung betrifft ein Arzneimittel zur Behandlung von Eisenüberladung als Folge von Bluttransfusionen bei Patienten mit Blutarmut. Novartis hat das Arzneimittel zunächst als dispergierbare Tablette auf den Markt gebracht. Im Oktober 2019 hat es dieses durch eine schluckbare Tablette ersetzt. Dank einer neuen Formulierung muss die Tablette vor der Einnahme nicht mehr in Wasser oder in einer wässrigen Lösung aufgelöst werden.

Novartis ist Inhaberin des Europäischen Patents EP 2 964 202. Dieses beansprucht Schutz für eine schluckbare Filmtablette mit Deferasirox oder einem pharmazeutisch unbedenklichen Salz in einer Menge von 45 bis 60 Gewichtsprozent bezogen auf das Gesamtgewicht der Tablette sowie weiteren, hier nicht interessierenden Hilfsstoffen.

Die von einer Tochtergesellschaft von Teva auf den Markt gebrachte Tablette enthielt 64,3% Deferasirox – immer bezogen auf das Gesamtgewicht der Tablette. Der Anteil des Wirkstoffes überstieg somit die von Novartis beanspruchte Bandbreite. Alle übrigen Merkmale waren unstreitig erfüllt. Damit stellt sich die Frage, welche Bedeutung den im Patentanspruch angegebenen Zahlen oder Massangaben zukommt, wenn ein Produkt trotz abweichender Eigenschaften die beanspruchte Lehre verletzen soll.

Wie verbal umschriebene Merkmale nehmen auch Zahlen und Massangaben an der Verbindlichkeit eines Patentanspruchs teil. Sie sind massgebend, um den Schutzumfang von einem Patent zu bestimmen, aber auch zu begrenzen. Da sprachlich formulierte allgemeine Begriffe immer eine gewisse Abstraktion beinhalten, kommt Zahlen und Massangaben ein höherer Grad an Eindeutigkeit und Klarheit zu. Deshalb dürfen die Mitbewerber davon ausgehen, dass in den Patentansprüchen alles niedergelegt ist, wofür Schutz begehrt wird. Entsprechend gilt eine Über- oder Unterschreitung deshalb nicht als patentverletzend. So die allgemeinen Grundsätze. Doch im Fall von Deferasirox kam alles anders.

Wann bejaht die Schweizer Rechtsprechung eine wortsinngemässe Patentverletzung?

In seinem Urteil vom 15. Dezember 2021 bejahte das Bundespatentgericht eine Patentverletzung für eine Tablette mit 64,3% Deferasirox obwohl der Patentanspruch auf 45 bis 60 Gewichtsprozent dieses Wirkstoffes beschränkt war. Der Entscheid erging in einem Verfahren um Erlass vorsorglicher Massnahmen und wurde von drei Richtern gefällt.

Einleitend stellte das Gericht klar, dass eine wörtliche Verletzung des Patentanspruches nicht vorliegen könne:

"Befindet sich ein gemessener Wert ausserhalb eines im Anspruch genannten Zahlenbereichs, wird er vom Wortlaut nicht mehr erfasst."

Weiter stellte das Gericht fest, dass dem Anspruch auch im Fall von Deferasirox keine relativierenden Hinweise zu entnehmen seien, wonach der beanspruchte Zahlenbereich nicht streng durch seine numerischen Grenzen begrenzt werde, beispielsweise durch eine Aussage wie «im Wesentlichen» oder «ungefähr im Bereich von». Die Erwähnung der 45 bis 60 Gewichtsprozente sei auch nicht bloss beispielhafter Natur.

Bei der Prüfung einer Patentverletzung durch äquivalente Mittel wird in der Schweiz geprüft, ob das abgewandelte Merkmal sich ausreichend von dem im Patentanspruch beanspruchten Merkmal unterscheidet – im vorliegenden Fall also der Gewichtsanteil des Wirkstoffes am Gesamtgewicht der Tablette (64,3 statt 45 bis 60 Gewichtsprozent Deferasirox). Ähnlich zur Rechtsprechung in anderen europäischen Ländern haben die Gerichte in der Schweiz folgende drei Fragen zu prüfen:

  • Gleichwirkung:  Erfüllt das abgewandelte Merkmal die gleiche Funktion wie das im Patentanspruch beanspruchte Merkmal.
  • Auffindbarkeit des abgewandelten Merkmals: War die Gleichwirkung des ausgetauschten Merkmals für den Fachmann offensichtlich.
  • Bindung an den Wortlaut des Patentanspruches: Kommt der Fachmann beim Lesen der Patentschrift zum Schluss, der Patentinhaber habe den Anspruch bewusst so eng formuliert, dass er keinen Schutz für eine gleichwirkende und auffindbare Ausführung beansprucht. Bei der Beurteilung dieser Frage ist der Rechtssicherheit ausreichend Rechnung zu tragen.

In seinem Massnahmeentscheid ist das Bundespatentgericht zum Schluss gekommen, dass ein gleichwirkender und auffindbarer Wert ausserhalb der im Patentanspruch genannten Bandbreite dennoch vom Schutzbereich umfasst sei, weil er sich innerhalb anerkannter Toleranzen befinde. In diesem Fall würde der genauen Einhaltung dieses Wertes keine technische Bedeutung zukommen. Im Fall von Deferasirox hat das Bundespatentgericht dies mit der Begründung bejaht, dass die beanstandete Tablette innerhalb der anerkannten Toleranzen für pharmazeutische Formulierungen liegen würde. Unter Berücksichtigung des Gesamtgewichts der Tablette betrage die Toleranz 7,5 Gewichtsprozent, ohne dass dadurch eine massgeblich abweichende Wirkung zu erwarten sei. Bei einer Obergrenze von 60% ergebe dies einen oberen akzeptablen Wirkstoffanteil von 68 Gewichtsprozent.

16 Monate später kam das Bundespatentgericht zum gegenteiligen Schluss und verneinte eine äquivalente Patentverletzung – immer im Fall von Deferasirox. Der Entscheid erging im ordentlichen Verfahren und wurde von 5 Richtern gefällt, im Vergleich zum früheren Entscheid also mit zwei zusätzlichen Richtern. In seinem Urteil vom 20. April 2023 ist das Bundespatentgericht zum Ergebnis gekommen, dass im Fall von Deferasirox kein Raum bestehe, um unter dem Aspekt der Äquivalenz die im Anspruch genannte Bandbreite zugunsten von allgemein akzeptierter Toleranzen zu erweitern:

"denn der Fachmann nimmt an, dass die Patentinhaberin mögliche Toleranzen bereits bei der Festlegung der beanspruchten Bandbreite berücksichtigt hat. Wenn sie [die Patentinhaberin] wollte, dass auch Ausführungsformen, die noch weiter vom bevorzugten Wert von 56% entfernt sind, vom Schutzbereich erfasst werden, so hätte sie die beanspruchte Bandbreite weiter fassen müssen."

Nach Auffassung des Gerichts könne dies umso weniger angenommen werden, als die Beschreibung einen bevorzugten Wirkstoffanteil von 56% offenbaren würde. Weil dieser bevorzugte Wert näher am oberen Rand der beanspruchten Bandbreite liegt, müsse es sich beim oberen Wert von 60% um eine verbindliche Grenze handeln:

"Obwohl es regelmässig nicht darauf ankommen kann, wo innerhalb der beanspruchten Bandbreite sich der bevorzugte Wert befindet, ist es vorliegend doch bemerkenswert, dass die obere Grenze von 60% bedeutend näher am bevorzugten Wert von 56% liegt als die untere Grenze von 45%. Hätte die Patentinhaberin einen gleich grossen Bereich ober- wie unterhalb des bevorzugten Werts beansprucht, läge die Bandbreite bei 46% bis 66%. Dass der obere Wert näher am bevorzugten Wert liegt, darf der Fachmann als weiteren Hinweis darauf sehen, dass der Wirkstoffanteil gerade eben nicht weiter gesteigert werden kann und es sich bei 60% um eine kritische und einzuhaltende Grenze handelt."

Daraus hat das Gericht gefolgert, dass die Patentinhaberin den beanspruchten Bereich gezielt und verbindlich um den bevorzugten Zahlenwert gelegt hat, mithin sich die Patentinhaberin bewusst entschieden hat, die Erfindung auf diesen Bereich zu spezifizieren und somit auf den ausserhalb dieser Bandbreite liegenden Schutzbereich zu verzichten. Entsprechend war das Gericht nun der Auffassung, dass ein Arzneimittel mit einem Wirkstoffanteil von 64,3 Gewichtsprozent nicht in den Schutzbereich der geltend gemachten Ansprüche fallen könne. Der Fachmann dürfe annehmen, dass die Patentinhaberin auf den Schutz für Ausführungsformen mit weniger als 45% oder mehr als 60% Wirkstoffanteil verzichtet habe.

Die Gretchenfrage

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Die Beurteilung durch das Bundesgericht steht noch aus. Aus Gründen der Rechtssicherheit ist dieser Entscheid zu begrüssen. Er schützt das Vertrauen in die begrenzende Wirkung eines Patentanspruches. Auch in der Schweiz dürfen Marktteilnehmer also darauf vertrauen, dass Zahlen und Massangaben in einem Patentanspruch abschliessend und verbindlich sind. Dennoch kann auch aus diesem Urteil nicht abgeleitet werden, dass es in der Schweiz für Patentansprüche mit Zahlen oder Massangaben keine äquivalente Patentverletzung geben würde.

Aber auch mit diesem Urteil sind noch längst nicht alle Fragen geklärt. In seiner Begründung hat das Gericht dem Umstand viel Bedeutung zugemessen, dass die bevorzugte Ausführungsform nicht in der Mitte der beanspruchten Bandbreite lag. Es ist deshalb ungewiss, ob das Gericht zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre, wenn im Patent keine bevorzugte Ausführungsform offenbart worden wäre.

Bereits im Massnahmeverfahren hat das Gericht sich mit seinem Entscheid spürbar schwergetan. Eine Interessenabwägung über die Auswirkungen einer vorsorglich verfügten Unterlassung hat es aber dennoch nicht vorgenommen. Das Risiko einer zu Unrecht erlassenen vorsorglichen Massnahme geht damit einseitig zulasten der massnahmebeklagten Partei. Dies umso mehr, als in der Schweiz die Anforderungen für die Geltendmachung von Schadenersatz für eine zu Unrecht erlassene vorsorgliche Massnahme sehr hoch sind. Vorbehältlich Rechtsmissbrauch haben Schweizer Gerichte einer im Massnahmeverfahren unterlegenen Partei deshalb kaum je Schadenersatz zugesprochen. Vor diesem Hintergrund stellt sich deshalb die Frage, ob das Bundespatentgericht allzu leichtfertig vorsorgliche Massnahmen gewährt, indem es die Auswirkungen auf die massnahmebeklagte Partei in der Abwägung der schutzwürdigen Interessen ausser Acht lässt. Für die Gewährung von vorsorglichen Massnahmen genügt es in der Schweiz, dass dem Patentinhaber ein nicht leicht wiedergutzumachender Nachteil droht. Bei vergütungspflichtigen Arzneimitteln wird diese Voraussetzung ohne weiteres bejaht. Den negativen Auswirkungen einer vorsorglichen Massnahme wird damit nicht ausreichend Rechnung getragen.

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