Ab dem 1. Januar 2024 gelten in der Schweiz neue Regeln für die Vergütung von nicht gelisteten Arzneimitteln. Grundsätzlich werden in der Schweiz nur die Kosten von Arzneimitteln vergütet, die auf der Spezialitätenliste aufgeführt sind. Dabei handelt es sich um eine abschliessende Liste aller vergütungspflichtigen Arzneimittel. Um den Zugang zu lebenswichtigen Therapien zu gewährleisten, müssen Krankenversicherungen die Kosten für ein Arzneimittel unter bestimmten Voraussetzungen aber dennoch übernehmen, auch wenn dieses nicht auf der Liste aufgeführt ist. Die Vergütung im Einzelfall ist wichtig für innovative, aber auch kostenintensive Arzneimittel zur Behandlung von seltenen Krankheiten. Die Änderung der Regeln über die Vergütung von Arzneimitteln steht in engem zeitlichen Zusammenhang mit der Prämienerhöhung für die Krankenversicherung in der Schweiz und bezweckt die Eindämmung der steigenden Arzneimittelkosten zulasten der sozialen Krankenversicherung. Die Verordnungsänderung droht den Zugang zu wichtigen Arzneimitteln für die Behandlung von seltenen Krankheiten zu verschlechtern, womit die Revision ihr Ziel zu verfehlen droht. Für Pharmafirmen stellen sich heikle juristische und ethische Fragen.
Was sind die wichtigsten Änderungen?
Standardisierte Nutzenbewertung: Die Bewertung des therapeutischen Nutzens soll neu aufgrund von standardisierten Nutzenbewertungsmodellen vorgenommen werden. Dadurch soll eine rechtsgleiche Behandlung aller Patientinnen und Patienten gewährleistet werden.
Verbindliche Rabatte: Ausgehend vom Preis der Spezialitätenliste oder dem Auslandpreis werden prozentuale Preisabschläge zwingend vorgeschrieben. Dadurch soll der Verhandlungsaufwand reduziert und der Zugang zur Therapie beschleunigt werden.
Transparenz: Neu ist die Ablehnung einer Kostengutsprache gegenüber dem behandelnden Arzt und dem Patienten oder der Patientin zu begründen. Die Begründungspflicht soll die Transparenz erhöhen. Die Begründung erlaubt eine allfällige Ablehnung auf dem Rechtsweg gezielt anzufechten.
Zudem sind die Krankenversicherungen verpflichtet, die Einzelfallvergütungen dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) bekannt zu geben. Dazu haben sie dieses jährlich über jedes von ihnen behandelte Kostengutsprachegesuch zu informieren, einschliesslich dem Namen des Arzneimittels, der Indikation, der Nutzenbewertung und der Höhe der gewährten Vergütung. Diese Informationen sind der Einsicht durch Dritte zugänglich. Die Anonymität der betroffenen Patientinnen und Patienten ist zu gewährleisten.
Was bezweckt die Verordnungsänderung?
Nicht alle durch die obligatorische Krankenpflegeversicherung (OKP) zu vergütenden Arzneimittel sind auf der Spezialitätenliste aufgeführt. Ausnahmsweise übernimmt die OKP auch die Kosten für Arzneimittel, deren Aufnahmebedingungen vom BAG nicht oder noch nicht geprüft wurden. Als Ausnahme zur Vergütung der Arzneimittel der Spezialitätenliste will die Einzelfallvergütung den Patientinnen und Patienten einen gleichberechtigten Zugang zu dringend benötigten Arzneimitteln ermöglichen, von denen ein hoher therapeutischer Nutzen in der Behandlung einer schweren Krankheit erwartet wird, für die es keine Behandlungsalternative gibt. Häufig handelt es sich dabei um Arzneimittel für die Behandlung von seltenen Krankheiten (Orphan drugs), über deren Zulassung und Vergütung die Schweizer Behörden noch nicht entschieden haben. Gemäss Angaben der Krankenversicherungen wurden im Jahr 2022 rund 50'000 Gesuche um Kostengutsprache gestellt, von denen 80 % bewilligt wurden.
In ihrem Entscheid über die Einzelfallvergütung kommt den Krankenversicherungen ein erheblicher Ermessensspielraum zu. Die Kostengutsprache setzt voraus, dass der Vertrauensarzt eine Nutzenbewertung vornimmt, wozu er allenfalls einen klinischen Fachexperten anzuhören hat. Weiter haben die Krankenversicherungen für jedes einzelne Kostengutsprachegesuch separate Preisverhandlungen zu führen. Dies führt zu unterschiedlichen Preisen, weshalb ein rechtsgleicher Zugang zu lebensrettenden Therapien nicht gewährleistet ist. Entsprechend war es Ziel der Revision, den Zugang der Patientinnen und Patienten zu wichtigen Arzneimitteln zu verbessern, den Aufwand für die Preisverhandlungen zu reduzieren und die Transparenz zu erhöhen.
Wird die Revision ihr Ziel erreichen?
Die standardisierte Nutzenbewertung steht im Zusammenhang mit der Beurteilung von Härtefällen als Voraussetzung für die Kostengutsprache. Analog zu dem von den Vertrauensärzten entwickelten OLUTool (OLU = Off Label Use) soll der therapeutische Nutzen in Abhängigkeit zum therapeutischen Fortschritts beurteilt werden: Sehr grosser therapeutischer Nutzen (Nutzenkategorie A), grosser therapeutischer Nutzen (Nutzenkategorie B), erwarteter grosser therapeutischer Nutzen (Nutzenkategorie C) und moderater, geringer oder kein therapeutischer Nutzen (Nutzenkategorie D).
Die Einteilung in die Nutzenkategorie hat Auswirkungen auf die Höhe der Vergütung bzw. der zwangsweise vorgeschriebenen Preisnachlässe: In Abhängigkeit vom therapeutischen Nutzen kommen unterschiedliche Preisabschläge zur Anwendung. Die Preisabschläge wollen gewährleisten, dass die Kosten in einem angemessenen Verhältnis zum therapeutischen Nutzen stehen. Die damit angestrebte Kosteneindämmung droht, den Zugang zu lebensrettenden Therapien unnötig zu verzögern oder gar ganz zu verunmöglichen. Ursache dafür sind nicht zuletzt die weitreichenden Auswirkungen dieser Änderungen auf Pharmafirmen:
- Auswirkungen auf das internationale Preisgefüge: Pharmafirmen riskieren, dass die hoheitlich vorgeschriebenen Zwangsrabatte die Preisverhandlungen im Ausland beeinflussen werden. Um zu vermeiden, dass die für die Schweiz vorgeschriebenen Preisabschläge sich nachteilig auf die im Ausland auszuhandelnden Preise auszuwirken, kann das Pharmaunternehmen auf eine Versorgung von Schweizer Patientinnen und Patienten verzichtet - jedenfalls bis die Preise im Ausland fertig ausgehandelt sind.
- Auswirkungen auf die inländischen Preisverhandlungen mit dem BAG: Entsprechendes gilt für die Aufnahme in die Spezialitätenliste in der Schweiz. Auch hier besteht die Gefahr, dass die hoheitlich vorgeschriebenen Preisabschläge die inländischen Preisverhandlungen mit dem BAG präjudizieren können, obwohl diese nur die Vergütung von nicht-gelisteten Arzneimitteln betrifft. Um nachteilige Auswirkungen zu vermeiden, kann das Pharmaunternehmen mit der Versorgung von Schweizer Patientinnen und Patienten zuwarten, bis Verhandlungen über die Konditionen für die Aufnahme in die Spezialitätenliste mit dem BAG abgeschlossen sind.
- Umsetzungsungewissheiten: Ist ein Arzneimittel nicht bereits in die Spezialitätenliste aufgenommen, ist es unklar, wie die Rabatte zu berechnen sind. Der für diesen Fall vorgeschriebene Auslandpreisvergleich ist in vielen Fällen nicht durchführbar, da es an einem Referenzpreis fehlt, insbesondere wenn Preismodelle zur Anwendung kommen.
- Ungewissheit über die Finanzierung von Therapieversuchen: Eine zunehmend grössere Zahl von Arzneimitteln wird mit begrenzter Evidenz zugelassen. Ist von einem Arzneimittel ein grosser therapeutischer Nutzen zu erwarten, der Erfolg für die konkrete Patientin oder für den konkreten Patienten aber ungewiss, so ist ein Therapieversuch angezeigt (Nutzenkategorie C). Für Zulassungsinhaberinnen besteht das Risiko, den ganzen Behandlungszyklus (Testphase und Behandlung bei Therapieerfolg) bezahlen zu müssen. Angesichts dieser ungleichen Risikoverteilung erscheint es ungewiss, ob Zulassungsinhaberinnen überhaupt noch bereit sein werden, Therapieversuche mitzutragen.
Unabhängig von der standardisierten Nutzenbewertung wird dem Vertrauensarzt auch in Zukunft ein grosser Ermessensspielraum in der Bestimmung des therapeutischen Nutzens verbleiben. Im Gegenteil, der Nutzenbewertung wird inskünftig eine noch grössere Bedeutung zukommen, weil sie den Preisabschlag und damit auch die Höhe der Vergütung präjudiziert. Damit sind Auseinandersetzungen über die Nutzenbewertung vorprogrammiert. Aus rechtsstaatlichen Gründen kann die Bekanntgabe des Entscheides über die Kostengutsprache nicht auf den behandelnden Arzt und die Patientin bzw. den Patienten beschränkt werden. Aufgrund der Auswirkungen auf die Höhe der Vergütung muss die Nutzenbewertung auch dem Pharmaunternehmen zugänglich gemacht werden.
Damit ist bereits heute absehbar, dass die neuen Regeln über die Vergütung von Arzneimitteln im Einzelfall den Zugang zu lebenserhaltenden Therapien verzögern werden. Es besteht ein erhebliches Risiko, dass der Entscheid über die Versorgung von Patientinnen und Patienten von finanziellen Überlegungen abhängig gemacht werden wird. Für Pharmaunternehmen gibt es keine einfachen Lösungen. Im Gegenteil, wie Gerichtsentscheide aus dem benachbarten Ausland zeigen, müssen sie damit rechnen, sie von Patienten und deren Angehörigen zur Verantwortung gezogen werden, falls sie sich weigern, lebensrettende Therapien diesen zugänglich zu machen. Dass Pharmaunternehmen nicht als Leistungserbringer qualifizieren, wird an der strafrechtlichen Verantwortung wenig ändern. Die Revision droht damit ihr wesentlichstes Ziel zu verfehlen.
Ist die Abrechnung als Zusatzentgelt zu einer stationären Behandlung eine Alternative?
Von der Einzelfallvergütung ausgenommen sind stationäre Behandlungen. Die Kosten für Behandlungen in Spital und Pflegeeinrichtung werden pauschal vergütet. Die Festlegung der Fallpauschale erfolgt nach dem Tarifsystem für stationäre Spitalleistungen (Swiss Diagnosis Related Groups, SwissDRG). Diese müssen leistungsbezogen und auf der Basis von schweizweit einheitlichen Tarifstrukturen festgelegt werden. Davon abweichend können die Tarifpartner jedoch vereinbaren, dass spezielle diagnostische oder therapeutische Leistungen nicht in der Pauschale enthalten sind, sondern separat verrechnet werden dürfen. Mit dieser zusätzlichen Vergütung als Zusatzentgelt sollen bestimmte Leistungen nach der Logik eines Einzelleistungstarifs vergütet werden, die nicht sachgerecht pauschal finanziert werden können, wie beispielsweise die Vergütung von teuren Arzneimitteln, Blutprodukten, Implantaten oder anderen kostenintensiven Behandlungsmethoden. Das Zusatzentgelt ist kein «zusätzliches» Entgelt, sondern eine ergänzende Vergütung ausserhalb der Fallpauschale, das zu einer leistungsbezogenen Differenzierung der Gesamtvergütung beitragen soll. Das Zusatzentgelt ist integraler Teil der Fallpauschalen-Finanzierung. Die Kosten, die mittels Zusatzentgelten abgegolten werden, werden aus dem System der Pauschalvergütung herausgerechnet.
Gesamtschweizerische Vereinbarungen über Zusatzentgelte müssen durch den Bundesrat genehmigt werden. Ein Beispiel einer derartiger Vereinbarung ist das Zusatzentgelt für die CAR-T Therapie mit Kymriah® (Tisagenlecleucel) von Novartis. Diese geht zurück auf eine Vereinbarung zwischen den Krankenversicherungen Helsana, Sanitas, KPT, Swica, Assura und CSS und dem Spitalverband H+. Der Bundesrat hat die Vereinbarung am 6. Dezember 2019 befristet genehmigt. Entsprechendes gilt auch für Yescarta® (Axicabtagen-Ciloleucel). Seit dem 1. Januar 2020 sind diese Behandlungen in Anhang 1 der KLV aufgenommen und werden für den Zeitraum vom 1. Januar 2023 bis zum 31. Dezember 2024 evaluiert. Seit dem 1. Juli 2022 gilt dies auch für die CAR-T Therapie mit Tecartus® (Brexucabtagen Autoleucel).
Der Inhalt dieser Vereinbarungen ist der Öffentlichkeit nicht zugänglich. Das Bundesverwaltungsgericht hat das Gesuch eines Journalisten um Offenbarung der real bezahlten Nettovergütungen bzw. Preismodelle für die CAR-T Therapie abgewiesen (Urteil A-2459/2021 vom 27. Juli 2023, beim Bundesgericht angefochten, nicht rechtskräftig).
Gegenüber der Einzelfallvergütung weist das Zusatzentgelt für die stationäre Behandlung nicht zu unterschätzende Vorteile auf: Als Zusatzentgelt kann die Vergütung in einem Tarifvertrag für die gesamte Schweiz einheitlich geregelt werden. Dieser Preis ist für alle Krankenkassen verbindlich. Die Behandlungskosten müssen nicht für jeden Einzelfall mit den Krankenkassen neu ausgehandelt werden. Die Einzelheiten der Vergütung sind der Öffentlichkeit nicht zugänglich. Die Vereinbarung eines Zusatzentgeltes ist aber auf die stationäre Behandlung beschränkt. Ob das Zusatzentgelt eine gangbare Alternative zur Einzelfallvergütung ist, hängt von der Unterscheidung ambulante und stationäre Behandlung ab. In Ermangelung einer gefestigten Rechtsprechung ist das Zusatzentgelt aber jedenfalls eine prüfenswerte Alternative zur Vergütung von Arzneimitteltherapien im Einzelfall.
Ausblick
Bei seltenen Krankheiten stellen sich heikle juristische und ethische Fragen in der Versorgung von Patientinnen und Patienten. Die neuen Bestimmungen über die Einzelfallvergütung stehen in engem zeitlichen Zusammenhang mit der Prämienerhöhung der obligatorischen Krankenversicherung. Entsprechend steht die Kosteneindämmung im Vordergrund der Überlegungen. Die Verordnungsänderung droht den Zugang von Patientinnen und Patienten zu neuen medikamentösen Therapien zu verschlechtern. Für Pharmaunternehmen stellen sich schwierige rechtliche und ethische Fragen.
Für weitere Informationen zur Vergütung im Einzelfall und wie sich die Gesetzesänderungen auf Ihr in der Schweiz ansässiges Unternehmen auswirken könnten, wenden Sie sich bitte an Ihren Ansprechpartner bei CMS oder an diesen CMS-Experten.
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