I. Einleitung
Die Teilrevision des Versicherungsvertragsgesetzes (VVG) trat per 1. Januar 2022 in Kraft. Die Revision enthielt u.a. das neu geschaffene direkte Forderungsrecht der geschädigten Person gegenüber dem Versicherungsunternehmen (Art. 60 Abs. 1bis VVG) oder das umfassendere Regressrecht des Versicherungsunternehmens (Art. 95c VVG). Die vom Gesetzgeber zur Teilrevision erlassene Übergangsbestimmung (Art. 103a VVG) lautet wie folgt:
"Für Verträge, die vor dem Inkrafttreten der Änderung vom 19. Juni 2020 abgeschlossen worden sind, gelten folgende Bestimmungen des neuen Rechts:
a. die Formvorschriften;
b. das Kündigungsrecht nach den Artikeln 35a und 35b."
Diese Übergangsbestimmung gab Anlass zu Diskussionen, ob es sich dabei um eine abschliessende übergangsrechtliche Regelung für die Teilrevision handle oder ob die Übergangsbestimmung auf mit dem Versicherungsvertrag zusammenhängende Rechtsverhältnisse mit Dritten nicht anwendbar ist und für diese Rechtsverhältnisse die Übergangsbestimmungen des SchlT ZGB Anwendung fänden. Mit dem neuen Leitentscheid vom 27. Januar 2025, BGE 151 III 35 (Referenz vor Publikation: BGer 4A_189/2024), hat das Bundesgericht das Verständnis von Art. 103a VVG geklärt (vgl. Abschnitt II). Damit ist auch geklärt, auf welche Versicherungsverträge der neue Art. 95c VVG (Regressrecht des Versicherungsunternehmens) Anwendung findet (vgl. Abschnitt III). Die im Urteil gemachten Erwägungen sind relevant für die Einschätzung der nach BGE 144 III 209 von vielen erwarteten weiteren Aufweichung der Gini/Durlemann-Praxis bezüglich aus Vertrag Haftenden (vgl. Abschnitt IV). Der Beitrag schliesst mit einem Ausblick (vgl. Abschnitt V).
II. Bundesgerichtliche Auslegung der Übergangsbestimmung zur Teilrevision des VVG (Art. 103a VVG)
Das Bundesgericht hat mit BGE 151 III 35 entschieden, dass es sich bei Art. 103a VVG um eine spezialgesetzliche und abschliessende übergangsrechtliche Regelung handelt. Auf vor dem 1. Januar 2022 abgeschlossene Versicherungsverträge sind nur die in Art. 103a VVG genannten Bestimmungen der Teilrevision (die Formvorschriften und das Kündigungsrecht [Art. 35a und 35b VVG]) anwendbar. Sämtliche weiteren Bestimmungen der Teilrevision finden einzig auf per 1. Januar 2022 und später abgeschlossene Versicherungsverträge Anwendung.
Entsprechend bestätigte das Bundesgericht das vorinstanzliche Urteil, wonach der klagenden Partei kein direktes Forderungsrecht unter Art. 60 Abs. 1bis VVG gegenüber dem Versicherungsunternehmen zustand (BGE 151 III 35 E. 2.4.8). Die Vorinstanz habe die Klage zu Recht mangels Passivlegitimation des beklagten Versicherungsunternehmens abgewiesen (BGE 151 III 35 E. 2.4.8).
III. Keine Rückwirkung von Art. 95c VVG
Mit der Rechtsprechung des Bundesgerichts zur Übergangsbestimmung ist in Bezug auf Art. 95c VVG geklärt, dass sich das Regressrecht des Versicherungsunternehmens für sämtliche vor dem 1. Januar 2022 abgeschlossenen Versicherungsverträge weiterhin nach Art. 72 aVVG richtet. Mit der abschliessenden übergangsrechtlichen Regelung kommt Art. 95c VVG keine Rückwirkung zu.
Art. 95c VVG ist somit einzig auf per 1. Januar 2022 abgeschlossene Versicherungsverträge anwendbar. Unter diesen Verträgen tritt das Versicherungsunternehmen somit im Umfang und zum Zeitpunkt seiner Leistung für die von ihm gedeckten gleichartigen Schadensposten in die Rechte des Versicherten ein (Art. 95c Abs. 2 VVG), uneingeschränkt bezüglich der Haftungsgrundlage gegenüber dem haftenden Dritten.
IV. Art. 72 aVVG – Wird das Bundesgericht die Gini/Durlemann-Praxis hinsichtlich vertraglich Haftender ändern?
In Zusammenhang mit dem in Art. 72 aVVG geregelten Regressrecht des Versicherungsunternehmens gibt es zwei Leitentscheide des Bundesgerichts: BGE 80 II 247 (Gini/Durlemann-Praxis) und BGE 144 III 209 (Praxisänderung betr. Regress auf Haftende aus Gefährdungs- und Kausalhaftung). Art. 72 Abs. 1 aVVG lautet wie folgt:
"Auf den Versicherer geht insoweit, als er Entschädigung geleistet hat, der Ersatzanspruch über, der dem Anspruchsberechtigten gegenüber Dritten aus unerlaubter Handlung zusteht."
Beide Leitentscheide befassen sich mit der Auslegung des Begriffs der unerlaubten Handlung im Sinne von Art. 72 Abs. 1 aVVG. Die Gini/Durlemann-Praxis setzt für den Regress des Versicherungsunternehmens unter Art. 72 aVVG gegen einen Dritten voraus, dass diesem Dritten grobfahrlässiges oder vorsätzliches Handeln vorzuwerfen ist. Mit BGE 144 III 209 änderte das Bundesgericht seine Praxis dahingehend, dass das Regressrecht jegliche ausservertragliche Haftung im Sinne von Art. 41-61 OR, d.h. einschliesslich Gefährdungs- und einfache Kausalhaftung, ohne zusätzliches Verschulden der ausservertraglich Haftenden umfasst. Diese Ansprüche des Versicherten gehen nach Art. 72 aVVG im Umfang der geleisteten Entschädigung auf das Versicherungsunternehmen über. Das Regressrecht des Versicherungsunternehmens unter Art. 72 aVVG auf eine andere aus Vertrag haftende Partei verblieb auf Situationen beschränkt, in welchen diese Partei vorsätzlich oder grobfahrlässig gehandelt hat.
Als Reaktion auf BGE 144 III 209 wurden in der (Gerichts-)Praxis vermehrt Stimmen laut, dass die mit diesem Entscheid erfolgte Aufweichung der Gini/Durlemann-Praxis eine weitere Praxisänderung bezüglich vertraglich Haftende erwarten lasse. Exemplarisch äusserte sich das Handelsgericht des Kantons Zürich (Urteil und Beschluss vom 2. Oktober 2018, HG160139-O, E. 2.4.2.2.) wie folgt:
"Der Ansatz des Bundesgerichts lässt sich – entgegen der Meinung der Beklagten (act. 39) – noch weiterentwickeln und zwar in Bezug auf den Regress von Schadenversicherern auf aus Vertrag haftende Personen. Der Umstand, dass der Schadenversicherer nicht mehr als eine aus Vertrag haftende Person im Sinne von Art. 51 OR gilt, muss auch diesbezüglich das richterliche Ermessen beeinflussen: Täte er das nicht, so wäre es nun plötzlich schwieriger auf aus Vertrag Haftende als auf Kausalhaftpflichtige Regress zu nehmen. Dies kann aufgrund der sich in der (nicht anwendbaren) Regresskaskade widerspiegelnden Grundwertung des Gesetzgebers und in Anbetracht der Bedeutung der Verschuldenskomponente nicht sein. Konsequenterweise ist deshalb auch der Regress der Schadenversicherer auf aus Vertrag haftende Personen zu erleichtern und diesen bereits bei leichtem Verschulden – dieses ist nötig, damit überhaupt der vertragliche Haftungstatbestand erfüllt ist (siehe Ziffer 2.5.1.2) – zuzulassen."
In der obiter gemachten Erwägung des Handelsgerichts fehlt der Bezug auf Art. 72 aVVG und inwiefern sich die vertragliche Haftung unter den Begriff der unerlaubten Handlung im Sinne von Art. 72 Abs. 1 aVVG subsummieren liesse. Es ist in Erinnerung zu rufen, wie das Bundesgericht die Praxisänderung in BGE 144 III 209 zur Auslegung von Art. 72 aVVG begründete (E. 2.5):
"[…] Vor diesem Hintergrund zunehmend kritischer Lehrmeinungen und stark veränderter äusserer Verhältnisse (durch die Einführung zahlreicher Gefährdungshaftungstatbestände) vermögen – trotz langjähriger Praxis – auch Rechtssicherheitsgründe einer Praxisänderung nicht entgegenzustehen. Der sachlich überzeugenden Lehrmeinung ist unter dem Hinweis zu folgen, dass es im Sinne einer "gelebten Gewaltentrennung" [...] dem Gesetzgeber unbenommen ist, im Rahmen der vorgesehenen Teilrevision die alte – oder eine andere – Regelung zu erlassen, falls sich der im Vernehmlassungsverfahren zur aufgegebenen Totalrevision festgestellte Konsens nicht als tragend erweisen sollte."
Es ist zu prüfen, ob diese Gründe auch auf aus Vertrag Haftende zutreffen würden. Im Unterschied zur Begründung der Praxisänderung in BGE 144 III 209 bestehen bezüglich vertraglich Haftende keine "stark veränderte[n] äussere[n] Verhältnisse" (E. 2.5). Das Bundesgericht wies zudem ausdrücklich auf die Gewaltentrennung hin und auf die Möglichkeit des Gesetzgebers, im Rahmen der Teilrevision eine Regelung zu erlassen, "falls sich der im Vernehmlassungsverfahren zur aufgegebenen Totalrevision festgestellte Konsens nicht als tragend erweisen sollte" (BGE 144 III 209 E. 2.5). Fraglich ist, ob der im neuen Leitentscheid BGE 151 III 35 festgestellte gesetzgeberische Wille in Bezug auf die Übergangsbestimmungen einer weiteren Aufweichung der Gini/Durlemann-Praxis bezüglich vertraglich Haftende entgegenstehen könnte – der sich in BGE 144 III 209 festgestellte Konsens somit nicht als tragend erweist.
Der in BGE 144 III 209 E. 2.5 angesprochene Konsens betraf die Tatsache, dass das Regressrecht des Versicherungsunternehmens in Art. 95c Abs. 2 VVG in derselben Form 2011 in der Totalrevision des VVG vorgesehen und im damals durchgeführten Vernehmlassungsverfahren unbestritten geblieben war. Das Bundesgericht erwog, dass den kritischen Lehrmeinungen zur bisherigen Praxis im bereits durchgeführten Vernehmlassungsverfahren zur Totalrevision keine Kritik erwachsen sei und dass Art. 95c Abs. 2 VVG mit dieser Begründung in die Teilrevision übernommen wurde. Damit überwiegten für das Bundesgericht die Gründe für eine Praxisänderung.
Im neuen Leitentscheid BGE 151 III 35 erwog das Bundesgericht im Rahmen der historischen Auslegung (E. 2.4.7), dass hinsichtlich der in Art. 103a VVG nicht erwähnten Bestimmungen ein qualifiziertes Schweigen des Gesetzgebers vorliege. Der Gesetzgeber hat sich somit gegen eine Rückwirkung der nicht erwähnten Bestimmungen, insbesondere Art. 95c VVG, auf vor dem 1. Januar 2022 abgeschlossene Versicherungsverträge ausgesprochen.
V. Ausblick
BGE 151 III 35 hat klargestellt, dass einzig die in Art. 103a VVG genannten Bestimmungen der Teilrevision, die Formvorschriften und das Kündigungsrecht (Art. 35a und 35b VVG), auf vor dem 1. Januar 2022 abgeschlossene Versicherungsverträge anwendbar sind.
Zum Regressrecht des Versicherungsunternehmens ist Folgendes festzuhalten:
- In Bezug auf alle per 1. Januar 2022 abgeschlossenen Versicherungsverträge besteht gestützt auf Art. 95c VVG ein Regressrecht des Versicherungsunternehmens gegenüber haftenden Dritten, einschliesslich aus Vertrag Haftender.
- Für sämtliche vor dem 1. Januar 2022 abgeschlossenen Verträge gilt weiterhin die bundesgerichtliche Rechtsprechung zu Art. 72 aVVG, wonach ein Regress auf aus Vertrag Haftende nur möglich ist, falls der Haftende vorsätzlich oder grobfahrlässig gehandelt hat. Ohne eine weitere Praxisänderung des Bundesgerichts besteht für diese Versicherungsverträge kein uneingeschränktes Regressrecht des Versicherungsunternehmens. Mit Blick auf eine Praxisänderung bestehen folgende Hürden: (i) der Wortlaut von Art. 72 aVVG spricht nur von Ansprüchen aus unerlaubter Handlung, (ii) es bestehen keine stark veränderten äusseren Verhältnisse in Bezug auf die vertragliche Haftung im Unterschied zu den neu eingeführten Gefährdungshaftungstatbeständen und (iii) der Gesetzgeber hat sich gegen eine Rückwirkung von Art. 95c VVG ausgesprochen. Insbesondere Punkt (iii) wird mit Blick auf die Gewaltentrennung schwierig zu überwinden sein und macht eine Praxisänderung unwahrscheinlich. Es wäre aufgrund der bekannten Kritik der Lehre an Art. 72 aVVG am Gesetzgeber gewesen, mit der Teilrevision rückwirkend lenkend einzugreifen – wenn er eine Änderung gewollt hätte.
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