Der einheitliche Aufsichtsmechanismus

22/09/2015

„Man hat fast alles reformiert, was man reformieren kann.“ Mit diesen Worten kommentierte Sabine Lautenschläger – damals noch Bundesbank- Vizepräsidentin, mittlerweile Direktoriumsmitglied der Europäischen Zentralbank (EZB) – im Dezember 2012 die Aufarbeitung der Finanzkrise durch das Reformprojekt „Europäische Bankenunion“. Während zwei der tragenden Säulen der Bankenunion – der einheitliche Bankenabwicklungsmechanismus und die europäische Einlagensicherung – noch im „Bau“ sind, hat die europaweite Bankenaufsicht unter dem Dach der EZB bereits ihre Arbeit aufgenommen.

Als Teil dieser vereinheitlichten Bankenaufsicht hat die EZB im November 2014 in größtenteils neuer, künftig bis zu 2.500 Mitarbeiter starker Besetzung u. a. die direkte Aufsicht über 120 „systemrelevante“ Institute der Eurozone übernommen. Die auch als „Single Supervisory Mechanism“ (SSM) bezeichnete, im Wesentlichen auf der Verordnung 1024 / 2013 (SSM-VO) beruhende neue Bankenaufsicht erschöpft sich jedoch bei Weitem nicht in der Aufsicht über die systemrelevanten Banken. Vielmehr kann die EZB durch den SSM die Aufsicht über jedes Institut in der Eurozone an sich ziehen (Art. 4 (5) lit. b SSM-VO). Modifiziert wurden aber beispielsweise auch die Entscheidungsstrukturen zwischen der Europäischen Bankenaufsichtsbehörde (EBA) und der EZB.

Die EZB als neue „Superaufsichtsinstanz“

Wenngleich der EZB keine Allzuständigkeit für die Bankenaufsicht zukommt, ist der Katalog der der EZB zugewiesenen Aufgaben doch umfassend. So ist die EZB gemäß Art. 6 (4) in Verbindung mit Art. 4 (1) lit. a und lit. c der SSM-VO für alle (!) Fragen der Zulassung und die Beurteilung von Anzeigen über den Erwerb oder die Veräußerung von qualifizierten Beteiligungen an Kreditinstituten zuständig.

Zudem übernimmt die EZB zunächst für die 120 „bedeutenden“ Institute alle weiteren zentralen Aufsichtsaufgaben, kontrolliert beispielsweise Eigenkapital und Liquidität und überwacht die Großkreditvergabe und den Verschuldungsgrad. Folgerichtig kann die EZB zur Vermeidung oder Beseitigung von Verletzungen aufsichtsrechtlicher Anforderungen

Verwaltungsmaßnahmen ergreifen. Diese reichen von Vorgaben zur Mittelverwendung über die Anordnung des Verkaufs von Unternehmensteilen bis hin zum Entzug der Bankerlaubnis (s. insbesondere Art. 14 (5) und Art. 16 (2) SSM-VO).

Die EZB wird bei ihrer Arbeit durch die nationalen Aufsichtsbehörden (National Competent Authorities, NCA) unterstützt. Originäre Zuständigkeiten verbleiben den NCA jedoch nur am Rande (z. B. auf dem Gebiet des Verbraucherschutzes und der Geldwäschebekämpfung). Denn alle als „weniger bedeutend“ eingestuften Institute werden zwar im Grundsatz von den nationalen Aufsichtsbehörden überwacht. Die EZB hat jedoch auch hier „den Hut auf“. So kann sie nicht nur Verordnungen und Leitlinien gegenüber den NCA erlassen (Art. 6 (5) lit. a SSM-VO), sondern die Aufsicht über nicht bedeutende Institute auch wie erwähnt an sich ziehen, wenn sie es für erforderlich hält. Dabei gibt es bereits erste Anzeichen, dass die EZB ihr Mandat weit auslegt und diese Kompetenzen nutzen wird. So hat z. B. dem Vernehmen nach einer der Generaldirektoren der EZB bereits angekündigt, sich in Kürze genauer mit Sparkassen und Genossenschaftsbanken als Verbünden von kleineren Banken zu beschäftigen. Auch im Zulassungsverfahren übernehmen die NCA gewissermaßen nur vorbereitende Tätigkeiten. Entsprechende Anträge sind zwar laut Art. 14 (1) SSM-VO weiterhin bei den NCA einzureichen. Wenn ein Antrag alle gesetzlichen Anforderungen erfüllt, leitet ihn die jeweilige NCA jedoch lediglich mit einer Beschlussempfehlung an die EZB weiter, die dann entscheidet (Art. 14 (2) SSM-VO).

Bislang nicht geklärt ist, ob diese weitreichende Kompetenzübertragung auf die EZB überhaupt von den europäischen Verträgen gedeckt ist. Nicht nur der frühere Verfassungsrichter Udo Di Fabio geht davon aus, dass die „EZB-Bankenaufsicht […] rechtmäßiger Weise nur über eine Vertragsänderung“ hätte eingeführt werden dürfen. Eine entsprechende Verfassungsbeschwerde ist beim Bundesverfassungsgericht anhängig.

Rolle der EBA als Koordinator und Lenker in der Not

Auch im Rahmen des SSM ist die EBA weiter hauptsächlich dafür verantwortlich, einheitliche Aufsichtsstandards zu entwickeln. Dies geschieht im Kern durch Fortschreibung eines einheitlichen europäischen Aufsichtshandbuchs („Single Rulebook“, s. dazu die Hin- und Verweise in Art. 4 (3) SSM-VO), mit dem nicht zuletzt das Phänomen der „Aufsichtsarbitrage“ unterbunden werden soll. Im Übrigen kann die EBA im Rahmen ihrer Koordinierungsaufgabe in gleichem Maße gegenüber der EZB tätig werden wie gegenüber anderen Aufsichtsbehörden. Dadurch kann die EBA u. a. im Krisenfall verbindliche Weisungen gegenüber der EZB erlassen und im Extremfall sogar direkt Anweisungen an Banken richten (vgl. Art. 18 der geänderten EBA-Verordnung 1093 / 2010). Mit Blick auf die europäische Rechtsordnung und die Unabhängigkeit der EZB erscheint dies als nicht unproblematisch.

Eine neue Ära, die zunächst vor allem Rechtsunsicherheit mit sich bringt

Der neue Aufsichtsmechanismus wird sich an seiner Zweckmäßigkeit und Effektivität im Vergleich zu der Arbeit der nationalen Aufsichtsbehörden messen lassen müssen. Vor allem für die unmittelbar von der EZB beaufsichtigten Banken ist die neue Aufsichtssituation mit Rechtsunsicherheit behaftet. Es mangelt bislang an einer Verwaltungspraxis, die mit derjenigen der nationalen Aufsichtsbehörden vergleichbar wäre. Bedenken bestehen ferner hinsichtlich des Rechtsschutzes gegenüber Rechtsakten der EZB, da es kein (kodifiziertes) europäisches allgemeines Verwaltungsrecht gibt. Es empfiehlt sich, die Entwicklungen hier genau im Auge zu behalten, um vor bösen Überraschungen aufgrund einer geänderten Verwaltungspraxis gefeit zu sein.