Neue Kapitalanlagevorschriften für Versicherungsunternehmen

15/07/2016

Bisherige Rechtslage

Gebundenes und freies Vermögen

Nach der bis zum 31. Dezember 2015 geltenden Fassung des VAG (VAG a. F.) hatten VU ein sog. „gebundenes Vermögen“ zu bilden, das sich aus zwei Vermögensmassen zusammensetzte: zum einen aus dem sog. „Sicherungsvermögen“, das im Insolvenzfall vorrangig als Grundlage für die Befriedigung der Leistungsansprüche der Versicherten dient; zum anderen aus dem sog. „sonstigen gebundenen Vermögen“, das die sonstigen versicherungstechnischen Verpflichtungen absicherte. Vom gebundenen Vermögen wurde das sog. „freie Vermögen“ abgegrenzt, das nicht der Deckung der mit den Versicherungsverhältnissen zusammenhängenden Rückstellungen diente. Im Wesentlichen handelte es sich beim freien Vermögen um die Gegenwerte des Eigenkapitals und die nicht versicherungstechnischen Passiva.

Beschränkungen nach VAG a. F.

Das gebundene Vermögen war (anders als das freie Vermögen, für das keine derartigen Beschränkungen galten) so anzulegen, dass möglichst große Sicherheit und Rentabilität bei jederzeitiger Liquidität des VU unter Wahrung angemessener Mischung und Streuung erreicht wurde (vgl. § 54 Abs. 1 VAG a. F.). Die frühere Verordnung über die Anlage des gebundenen Vermögens von VU (AnlV) konkretisierte diese Kapitalanlagegrundsätze des VAG weiter und enthielt einen „statischen“ Katalog von zulässigen Kapitalanlageformen (Anlagenkatalog). Zudem hatte die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) praxisrelevante Hinweise zur Anlage des gebundenen Vermögens in Form eines Rundschreibens veröffentlicht.

Neue Rechtslage

Abschaffung statischer Anlagevorgaben und neue Anlagegrundsätze

Entsprechend den Vorgaben von Solvency II sind statische Festlegungen von bestimmten zulässigen Anlageformen wie diejenigen im Anlagekatalog der bisherigen AnlV nicht mehr zulässig. Die AnlV ist deshalb mit Wirkung zum 1. Januar 2016 aufgehoben worden. An die Stelle der bisherigen Anlagegrundsätze für das gebundene Vermögen nach § 54 Abs. 1 bis 3 VAG a. F. sind die neuen Anlagegrundsätze des § 124 Abs. 1 VAG n. F. getreten, welche für die Anlage aller Vermögenswerte von VU gelten. Die bisherige Unterscheidung zwischen gebundenem Vermögen (bestehend aus Sicherungsvermögen und sonstigem gebundenem Vermögen) und freiem Vermögen ist damit entfallen. Bedeutsam geblieben ist aber die Unterscheidung des Sicherungsvermögens vom restlichen Vermögen eines VU.

Neue Freiheit der Kapitalanlage?

Durch den Wegfall der statischen Anlagevorgaben der AnlV und die Einführung der neuen Anlagegrundsätze erhalten VU größere Flexibilität bei ihrer Kapitalanlage. Allerdings wird in der Gesetzesbegründung ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die neuen Anlagegrundsätze keine uneingeschränkte Freiheit bei der Kapitalanlage bedeuteten und der bisherige Sicherheitsstandard nicht gelockert werde. Anstelle der Einhaltung konkreter aufsichtsrechtlicher Vorgaben werde den Unternehmen lediglich mehr Eigenverantwortung bei der vorsichtigen Kapitalanlage abverlangt.

Dementsprechend müssen VU zukünftig ihre gesamten Vermögenswerte nach dem Grundsatz der unternehmerischen Vorsicht anlegen. Dazu enthält § 124 Abs. 1 Satz 2 VAG n. F. in Nr. 1 bis Nr. 8 weitere Rahmenparameter. Danach darf insbesondere nur in Vermögenswerte investiert werden, deren Risiken das VU hinreichend identifizieren, bewerten, überwachen, steuern, kontrollieren und in seine Berichterstattung einbeziehen kann. Ferner sind alle Vermögenswerte so anzulegen, dass Sicherheit, Qualität, Liquidität und Rentabilität des Portfolios als Ganzes sichergestellt werden. Ergänzend ist zu beachten, dass VU im Rahmen ihrer ordnungsgemäßen Geschäftsorganisation nun verpflichtet sind, nachzuweisen, dass sie die Anforderungen des § 124 VAG n. F. einhalten. Das hat zur Folge, dass innerhalb des Risikomanagements der Entwicklung eigener Leitlinien für die Kapitalanlage für die VU nach dem neuen Recht eine größere Bedeutung als bisher zukommt.

Ergänzend zu den gesetzlichen Regelungen des neuen VAG sind insbesondere die BaFin-Auslegungsentscheidung zum Grundsatz der unternehmerischen Vorsicht vom 1. Januar 2016, die BaFin-Auslegungsentscheidung zum Risikomanagement in VU vom 1. Januar 2016 sowie die EIOPALeitlinien 27 bis 35 zum Governance- System zu beachten.

Anwendungsreichweite

Zu berücksichtigen ist, dass die neuen Vorgaben für die Kapitalanlage nach dem Grundsatz der unternehmerischen Vorsicht nicht für sog. kleine VU gelten. Für diese, d. h. insbesondere für Erstversicherer, deren jährliche Bruttoprämieneinnahmen EUR 5 Mio. bzw. deren gesamte versicherungstechnische Rückstellungen EUR 25 Mio. nicht übersteigen, ist vielmehr die Regelung des § 215 VAG n.F. maßgeblich, welche der Regelung des § 54 VAG a.F. weitgehend entspricht. Auch für bestimmte andere Unternehmensformen bleibt die alte Rechtslage ganz oder zum Teil aufrechterhalten. Wie für kleine VU besteht insoweit auch für Sterbekassen und Pensionskassen nach dem neuen VAG eine Ermächtigungsgrundlage für eine Verordnung mit Vorgaben für statische Anlageformen. Auf dieser Grundlage ist (ausschließlich) für kleine VU, Sterbekassen und Pensionskassen eine Verordnung für die Kapitalanlage des Sicherungsvermögens neu erlassen und am 21. April 2016 im Bundesgesetzblatt verkündet worden (Verordnung über die Anlage des Sicherungsvermögens von Pensionskassen, Sterbekassen und kleinen Versicherungsunternehmen (Anlageverordnung – AnlV)). Die Vorgaben dieser Verordnung werden voraussichtlich auch für bestimmte Versorgungswerke relevant werden, für welche eine entsprechende Anwendung dieses Aufsichtsregimes gesetzlich vorgeschrieben ist (vgl. z. B. Art. 15 des bayerischen Gesetzes über das öffentliche Versorgungswesen) oder die sich diesem freiwillig unterwerfen.

Fazit

Die neuen Vorgaben für die Kapitalanlage bieten, soweit diese anwendbar sind, VU eine größere Flexibilität als bisher. Allerdings sind die VU verpflichtet, nachzuweisen, dass sie die mit dem Grundsatz der unternehmerischen Vorsicht verbundenen Anforderungen tatsächlich auch einhalten. Zu prognostizieren ist, dass die größere Freiheit für VU insoweit mit einer Steigerung des Dokumentationsaufwandes im Rahmen ihres auf Kapitalanlagen bezogenen Risikomanagements einhergehen wird. Dies gilt insbesondere, soweit VU bei ihrer Kapitalanlage von den bisher zulässigen Kapitalanlageformen abweichen möchten. Im Übrigen sind statische Vorgaben für Anlageformen nach dem Vorbild der bisherigen AnlV auch weiterhin von sog. kleinen VU, Sterbekassen und Pensionskassen sowie ggf. Versorgungswerken zu beachten.