Schweiz: Neues Zulassungsrecht für ambulante Leistungserbringer - Werden EU-Ärztinnen und -Ärzte rechtswidrig benachteiligt?

Schweiz
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Seit dem 1. Januar 2022 gelten in der Schweiz neue Bestimmungen für die Abrechnung von ambulant erbrachten Leistungen zulasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP). Davon betroffen sind alle ambulant tätigen Leistungserbringer, einschliesslich Ärztinnen und Ärzte.

Das neue Zulassungsrecht bezweckt, die Anforderungen an die zulasten der OKP tätigen Leistungserbringer zu erhöhen und dadurch die Qualität und die Wirtschaftlichkeit der von ihnen erbrachten Leistungen zu verbessern. Der Zweck des neuen Zulassungsrechts unterscheidet sich von den ebenfalls neuen Bestimmungen über die Zulassungssteuerung, welche die Kantone verpflichtet, die Zahl der zulasten der OKP tätigen Ärztinnen und Ärzte nach Fachgebiet oder Region zu beschränken.

Von der Zulassung zur Abrechnung zur Tätigkeit zulasten der OKP zu unterscheiden ist die gesundheitspolizeiliche Bewilligung für die Berufsausübung in eigener fachlicher Verantwortung. Die Berufsausübungsbewilligung ist eine zwingende, nicht jedoch ausreichende Voraussetzung um zur Tätigkeit zulasten der OKP zugelassen zu werden. Zusätzlich müssen Gesundheits- und Medizinalpersonen also auch über eine Zulassung verfügen, wenn sie zulasten der OKP tätig werden wollen.

Das neue Zulassungsrecht stellt erhöhte Anforderungen an Ärztinnen und Ärzte, die zulasten der OKP tätig werden wollen. Davon besonders betroffen sind ausländische Ärztinnen und Ärzte sowie Organisationen, die solche beschäftigen, namentlich ambulante ärztliche Einrichtungen oder Ambulatorien. Denn mit dem neuen Zulassungsrecht ist es ausländischen Ärztinnen und Ärzten nicht mehr möglich, direkt zulasten der OKP tätig zu werden – weder in eigener Praxis noch als Angestellte einer ambulanten ärztlichen Einrichtung, und zwar auch selbst wenn sie über einen anerkannten Facharzttitel verfügen. Vielmehr verlangt das neue Zulassungsrecht, dass alle Ärztinnen und Ärzte mindestens drei Jahre im beantragten Fachgebiet an einer anerkannten Weiterbildungsstätte in der Schweiz gearbeitet haben. Dieses Erfordernis der vorgängigen Tätigkeit an einer schweizerischen Weiterbildungsstätte verunmöglicht es ausländischen Ärztinnen und Ärzten, in der Schweiz selbständig tätig zu werden ohne hier vorgängige Berufserfahrung erworben zu haben. Einschränkend hinzu kommt der Nachweis genügender Sprachkenntnisse (C1 gemäss dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen). Auch muss bei jedem Wechsel des Standortkantons erneut um Zulassung ersucht werden. Die Zulassungsvoraussetzungen müssen durch den zweiten Kanton in einem aufwändigen neuen Verfahren autonom geprüft werden. Nach Aussage des BAG stehe das vereinfachte Verfahren gemäss dem Bundesgesetz über den Binnenmarkt (BGBM) dafür nicht zur Verfügung.

Von diesen neuen Anforderungen nicht betroffen sind Leistungserbringer, die bei Inkrafttreten des neuen Zulassungsrechts bereits zulasten der OKP tätig gewesen waren, sofern sie keinen Kantonswechsel vornehmen.

Ist das Zulassungsrecht mit dem Freizügigkeitsabkommen zu vereinbaren?

Bereits während den parlamentarischen Beratungen wurden Bedenken gegen die Vereinbarkeit des neuen Zulassungsrechts mit dem Freizügigkeitsabkommen mit der EU (FZA) geäussert. Nach seinem in Kraft treten äusserten verschiedene Kantone die Befürchtung, dass es zu einer Unterversorgung für bestimmte medizinische Fachgebiete kommen könnte. Das Parlament hat das Anliegen der Kantone aufgenommen und nur fünf Monate nach dem Inkrafttreten des neuen Zulassungsrechts eine parlamentarische Initiative eingereicht. Diese will es den Kantonen erlauben, für vier abschliessend aufgezählte Fachrichtungen (Grundversorgung, Kinder- und Jugendmedizin sowie Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie) eine befristete Ausnahme vom Erfordernis der dreijährigen Tätigkeit an einer schweizerischen Weiterbildungsstätte zu erlassen, sofern es nachweislich zu einer Unterversorgung kommt. Mit dieser Vorlage haben die Zweifel an der Vereinbarkeit des neuen Schweizer Zulassungsrecht mit dem FZA einen neuen Höhepunkt erlangt: In seiner Stellungnahme zur parlamentarischen Initiative betont der Bundesrat seine Bedenken über die Vereinbarkeit mit dem FZA. Zwar lässt er offen, wie die Gerichte über die neuen Zulassungsbestimmungen entscheiden werden. Zumindest aus europapolitischen Gründen ist er aber der Meinung, dass das neue Schweizer Zulassungsrecht geändert werden muss, damit es den Anforderungen an das FZA genügt:

"Eine wie von der EU geforderte FZA-konforme Regelung in Artikel 37 KVG würde bedingen, dass dessen Regelungsinhalt ganz grundsätzlich überdacht wird." 

Eine Änderung des Zulassungsrechts erfordert eine Gesetzesänderung, für die das Parlament allein zuständig ist. Entsprechend hat der Bundesrat das Parlament zum Tätigwerden aufgefordert. Seine Aufforderung stellt einen kaum verklausulierten Hinweis dar, dass das vom Parlament erlassene Zulassungsrecht gegen das FZA verstossen könnte. Die Bedenken des Bundesrates werden durch die Forderung der EU-Kommission bestätigt, einen Verstoss gegen das Nichtdiskriminierungsgebot geltend gemacht und die Schweiz aufgefordert hat, eine FZA konforme Regelung der Zulassung von Ärztinnen und Ärzten zur Tätigkeit zulasten der OKP zu erlassen.

Wie konnte das geschehen?

Aufgrund ihrer zentralen Rolle im System der OKP erachtete es der Bundesrat als erforderlich, dass die Ärztinnen und Ärzte über die notwendigen Kenntnisse des schweizerischen Gesundheitssystems verfügen. Entsprechend sah der bundesrätliche Entwurf zu einem neuen Zulassungsrecht vor, dass die Ärztinnen und Ärzte die für die Qualität der Leis­tungserbringung notwendigen Kenntnisse des schweizerischen Gesundheitssys­tems nachzuweisen. Dazu war eine Prüfung in der kantonalen Amtssprache erforderlich. Der Entwurf sah vor, dass Ärztinnen und Ärzte von der Prüfung ausgenommen waren, die "mindestens drei Jahre an einer anerkannten schweizerischen Weiterbildungsstät­te gearbeitet ha­ben." Ein darüberhinausgehender, gesonderter Sprachnachweis war nicht vorgesehen. Ebenso wenig enthielt der Entwurf eine allgemeine Pflicht, vor Aufnahme der Tätigkeit zulasten der OKP bereits einmal in der Schweiz tätig gewesen zu sein. Das Erfordernis der dreijährigen Tätigkeit an einer schweizerischen Weiterbildungsstätte beschränkte sich darauf, die entsprechenden Ärztinnen und Ärzte von der Prüfung auszunehmen.

Aus diesem vom Bundesrat nur als Ausnahme vorgeschlagene Erfordernis hat das Parlament eine Grundsatzbestimmung gemacht, wonach alle Ärztinnen und Ärzte mindestens drei Jahre im beantragten Fachgebiet an einer anerkannten schweizerischen Weiterbildungsstätte gearbeitet haben müssen. Weiter hat das Parlament die Ärztinnen und Ärzte dazu verpflichtet, ihre Kompetenz in der Sprache ihrer Tätigkeitsregion nachzuweisen und verlangt hierfür das Bestehen einer in der Schweiz abzulegenden Sprachprüfung. Davon ausgenommen sind Ärztinnen und Ärzte, welche in der entsprechenden Sprache ihre schweizerische gymnasiale Maturität oder ihr eidgenössisches oder anerkanntes ausländisches Diplom für Ärztinnen und Ärzte erworben haben.

Aufgrund der vom Parlament vorgenommenen Änderungen haben also sich die Voraussetzungen grundlegend verändert, welche Ärztinnen und Ärzte erfüllen müssen, damit sie zur Tätigkeit zulasten der OKP zugelassen werden können.

Soweit ersichtlich hat das Parlament zu keinem Zeitpunkt je geprüft, ob die von ihm vorgenommenen Änderungen am bundesrätlichen Entwurf rechtmässig sind und die Anforderungen an das FZA erfüllt. Zwar gibt es Hinweise, dass die Vereinbarkeit mit dem FZA in den parlamentarischen Beratungen diskutiert wurde, offenbar bereits in den Kommissionsberatungen, wurden die notwendigen Schlussfolgerungen daraus aber nicht gezogen, vgl. Ständerat Stöckli zu den Gesprächen in der Kommission:

"Wir haben auch die Kompatibilität mit dem Freizügigkeitsabkommen diskutiert. Der Bundesrat hat gewisse Zweifel angemeldet, ob die Mehrheitslösung diesem entsprechen würde."

In seinem Entscheid hat sich das Parlament auf einen Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts abgestützt, das sich mit den Auswirkungen des FZA auf die Zulassung von ausländischen Ärztinnen und Ärzten befasst hat. Dieses Urteil ist jedoch nur von beschränkter Aussagekraft, weil es eine eigentliche Zulassungssteuerung und somit einen anderen Sachverhalt betraf. In diesem Urteil – wie auch in anderen Entscheiden – wurde die Zulassungssteuerung als vorübergehende Lösung gerechtfertigt, da sie befristet erlassen wurde, um im Sinne einer "provisorischen Notbremse" die damals "erwartete starke Zunahme der Ärztezahl durch Angehörige von EU-Staaten zu begrenzen" und die dadurch befürchtete Zunahme der Gesundheitskosten und Steigerung der Krankenkassenprämien zu bremsen. Davon unterscheidet sich das neue Zulassungsrecht, das auf Dauer angelegt ist und keine Zulassungssteuerung bezweckt. Deshalb ist dieses vom Parlament als massgebend erachtete Urteil für die Beurteilung der Vereinbarkeit mit dem FZA nicht einschlägig. Vielmehr müssen die sich aus dem neuen Zulassungsrecht ergebenden Einschränkungen zulasten ausländischer Ärztinnen und Ärzten separat geprüft werden. Dies betrifft vor allem die Erfordernisse der dreijährigen Tätigkeit an einer Weiterbildungsstätte in der Schweiz, der ausreichenden Sprachkenntnisse sowie die Notwendigkeit, bei jedem Kantonswechsel erneut um Zulassung zu ersuchen.

Mit den von der parlamentarischen Initiative beabsichtigten Ausnahmen haben sich die Zweifel an der Rechtmässigkeit weiter verschärft. Insbesondere scheint die Wahl der Fachgebiete willkürlich getroffen zu sein. Auch die Tatsache, dass von der dreijährigen Tätigkeit nun eine befristete Ausnahme vorgenommen wird, bestätigen die Zweifel an der Verhältnismässigkeit der Massnahme.

Was sind die praktischen Auswirkungen?

Das neue Zulassungsrecht der Schweiz erweckt den Eindruck eines wenig durchdachten Flickwerkes. Dies wird durch die nur wenige Monate nach dem Inkrafttreten eingereichten parlamentarischen Initiative bestätigt. Aber auch mit dieser erneuten Änderung wird dem im Gesundheitswesen vorherrschenden Fachkräftemangel nur unzureichend Rechnung getragen.

Ärztinnen und Ärzte aus einem EU-Mitgliedstaat haben die Möglichkeit, diese Anforderungen anzufechten und eine Verletzung des FZA geltend zu machen. In ihrer Beurteilung haben die Gerichte die öffentlichen Interessen an der Einschränkung und deren Verhältnismässigkeit zu prüfen. In diesem Zusammenhang ist auch die parlamentarische Initiative und die Stellungnahme des Bundesrates zu berücksichtigen, welche die vorhandenen Zweifel an der Vereinbarkeit des neuen Zulassungsrechts mit dem FZA bekräftigen. Dies gilt vor allem in Bezug auf das Erfordernis der dreijährigen Tätigkeit an einer Schweizer Weiterbildungsstätte, aber auch das erneute Einholen einer Bewilligung bei einem Kantonswechsel.

Für weitere Informationen über die Auswirkungen des neuen Schweizer Zulassungsrechts auf ambulante Leistungserbringer, insbesondere Ärztinnen und Ärzte, die sich dafür interessieren, in der Schweiz tätig zu werden, wenden Sie sich bitte an Ihren CMS-Kundenpartner oder an die lokalen CMS-Experten.