Die "kleine Revision" des Bundesgerichtsgesetzes

Schweiz
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Hintergrund

In den Jahren 2008 – 2013 wurde eine Evaluation der Bundesrechtspflege durchgeführt, welche folgende drei Probleme feststellte: Einerseits sei das Bundesgericht überlastet, wobei dies insbesondere auf die Zunahme der Beschwerden in Strafsachen zurückzuführen sei. Andererseits ergab die Evaluation auch eine Fehlbelastung in dem Sinne, als dass das Bundesgericht sich mit zu vielen Fällen ohne praktische Relevanz auseinandersetzen müsse und das Gesetz hingegen teilweise die Zuständigkeit für Fälle ausschliesse, die für die Rechtseinheit und Rechtsfortbildung bedeutend sind. Weiter wurden auch bestimmte Rechtsschutzlücken festgestellt.

Das Scheitern der "grossen BGG-Revision"

Bestimmungen zur Organisation, dem Zugang sowie dem Verfahren vor dem höchsten Gericht der Schweiz sind im Bundesgesetz über das Bundesgericht (BGG, SR 173.110) geregelt. Vor dem Hintergrund des Ergebnisses der Evaluation und der darin festgestellten Mängel der Bundesrechtspflege war im Jahr 2020 eine Revision des BGG geplant. Dabei bildete das Konzept der umfassenden Restkompetenz des Bundesgerichts Kernbestandteil des damaligen Revisionsentwurfs. Idee dieses Konzepts war es, dem Bundesgericht in Fällen, in denen bisher Ausnahmekataloge und Streitwertgrenzen (Art. 73 f., Art. 79 und 83 ff. BGG) eine Beschwerde ausschlossen, in grundlegenden Rechtsfragen sowie übrigen besonders wichtigen Fällen eine umfassende Restkompetenz zu gewähren.

Neben Massnahmen, welche die konkreten in der Evaluation festgestellten Probleme adressieren sollten, sah der damalige Revisionsentwurf auch Änderungen vor, welche in keinerlei Zusammenhang mit dem Ergebnis der Evaluation standen. Beispielsweise sollte das Konzept der "dissenting opinions" eingeführt werden, d.h. bei nicht einstimmig ergangenen Entscheiden sollten Minderheitsmeinungen dem schriftlichen Entscheid als Anhang beigefügt werden können. Weiter sah der Entwurf eine Erweiterung des Spielraums des Bundesgerichts bei der Festsetzung der Gerichtsgebühren nach oben vor.

Obwohl die durch die Evaluation festgestellten Mängel der Bundesrechtspflege allgemein anerkannt waren, erfuhr der Revisionsentwurf 2018 viel Kritik, wofür insbesondere das Konzept der umfassenden Rechtskompetenz und ihr Zusammenspiel mit der subsidiären Verfassungsbeschwerde verantwortlich war. Schliesslich wurde der Revisionsentwurf in der Frühjahrssession 2020 des Parlaments definitiv verworfen.

Das Postulat Caroni

Die Probleme, welche durch die Evaluation festgestellt wurden (Über- und Fehlbelastung und Rechtsschutzlücken) bestehen damit unverändert weiter. Der Bundesrat wagt deshalb einen zweiten Versuch: In Erfüllung des Postulats Caroni 20.4399 veröffentlichte er am 24. Januar 2024 einen Bericht und legte darin den Revisionsbedarf des geltenden BGG dar. Insbesondere analysierte er das Konzept der umfassenden Restkompetenz – das beim letzten Versuch wesentlich zum Scheitern der Revision führte – und kam dabei zum Schluss, dass dieses nicht erfolgversprechend sei. Es wurden auch alternative Möglichkeiten diskutiert, unter anderem die Abschaffung der subsidiären Verfassungsbeschwerde sowie die Einführung einer Art EMRK-Beschwerde, wobei die Expertengruppe aber zum Schluss kam, dass dies zu einer Mehrbelastung des Bundesgerichts führen würde.

In seinem Bericht hält der Bundesrat nun an jenen Vorschlägen des Revisionsentwurfs 2018 fest, welche er als "valabel und tragfähig" einstuft, "weil sie grundsätzlich weder die Arbeitslast des Bundesgerichts bedeutsam erhöhen noch den Rechtsschutz abbauen, noch sonstige kontroverse Elemente enthalten". Es handelt sich dabei lediglich um redaktionelle, rechtstechnische oder organisationsrechtliche Neuerungen. Beispielsweise es soll Bundesrichterinnen und Bundesrichtern ermöglicht werden, während drei vollen zweijährigen Wahlperioden den Abteilungsvorsitz auszuüben, indem eine Wiederwahl nach weniger als zwei Jahren nicht angerechnet wird. Zudem sieht der Revisionsentwurf eine gerichtsinterne Rekurskommission vor, die arbeitsrechtliche Streitigkeiten mit dem Bundesgerichtspersonal beurteilt. Neben diesen die Gerichtsorganisation betreffenden Neuerungen sind auch verschiedene einzelne Aspekte des Verfahrens vor Bundesgericht Gegenstand des Revisionsentwurfs, ohne dieses jedoch in seinen Grundsätzen zu ändern. Beispielsweise soll das Bundesgericht auch dem im Beschwerdeverfahren nicht mehr beteiligten Opfer das Entscheiddispositiv und die Teile der Begründung mitteilen, welche die zu seinem Nachteil begangene Straftaten betreffen. Weiter sieht der Entwurf eine zehnjährige Verjährungsfrist für Ersatzforderungen des Bundes bei unentgeltlicher Rechtspflege vor. Zudem soll die Obergrenze der Gerichtskosten in besonderen Fällen erhöht werden.  

Wie geht es nun weiter?

Das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) ist nun beauftragt, bis Ende 2024 eine Vernehmlassungsvorlage im Sinne einer "kleinen BGG-Revision" auszuarbeiten. Im Vordergrund sollen dabei die technische Verbesserung der Rechtslage sowie die Rechtsicherheit stehen. Jene Änderungsvorschläge des früheren Revisionsentwurfs, die in der Hauptsache die Verbesserung des Rechtsschutzes oder die Entlastung des Bundesgerichts zum Ziel hatten und politisch besonders umstritten sind, sollen im Rahmen dieser Teilrevision nicht aufgenommen werden.